Lied der Bindungsphobiker
Wir vermeiden das Entscheiden,
und wir legen uns nicht fest,
denn wir streben nach dem Leben,
das uns jede Freiheit lässt,
haben mehrere Optionen,
halten viele Türen auf,
lassen alles in der Schwebe
und dem Schicksal seinen Lauf.
Wir ernähren uns von Träumen
und wir leben vom Vielleicht,
saugen Honig aus den Wolken,
und wir tun, als ob das reicht,
haben Bammel vor Enttäuschung,
vor Verletzung und Verlust,
wir befürchten Langeweile,
Stagnation und Alltagsfrust,
haben Angst vor zu viel Nähe,
denn was nah ist, ist auch eng,
und darum ist auch unser Maßstab
ans Ideal besonders streng.
Und so warten wir und suchen
unsern quergestreiften Klee,
und wir hoffen unbeirrbar
auf das Wundergrün im Schnee.
Und dann kommen wir in die Jahre,
und dann blicken wir zurück,
und wir wiegen unser Leben
und vermessen unser Glück,
ziehn die Fakten in Erwägung
und die Chancen in Betracht
und bemerken etwas traurig:
Wir hamm nichts daraus gemacht!
Quelle:
Jörn Heller, Singelingeling. Junggesellenlyrik, JHV, Siegen 2009