Zitat von wiesenblume
Aber....haben wir hier fast alle nicht ein fehlendes Selbstwertgefühl?
Denke ich nicht.
Ich kenne keinen Menschen mit "fehlendem" Selbstwertgefühl.
Vermutlich hat sogar ein Selbstmordattentäter irgendeine Art von Selbstwertgefühl, auch wenn sein Verhalten nicht direkt darauf schliessen lässt, dass es auf Selbstliebe basiert. Wohl eher zu sehr auf den äußeren Wertesystemen (in dem Fall fanatische) und zu wenig auf der Lebensfreude oder der Achtung vor dem Leben - also alles in allem primär auf dem Selbstbild, dem Image (in dem Fall das des "Märtyrers" oder sowas).
Zitat von wiesenblume
Ich denke, allein Lebensfreude als Indiz für eine hohe Selbstliebe langt hier nicht aus.
Ich meine, dass Lebensfreude die Grundvoraussetzung dafür ist, ein gesundes Selbstverständnis, Selbstliebe und damit einen stabilen Selbstwert zu finden.
Sartre sagte einst sinngemäß, dass jeder Mensch selbst eine Rechtfertigung seines Daseins finden muss.
Diese Rechtfertigung im biophilen Sinne zu finden, dürfte allerdings schwer fallen, wenn man seinem irdischen Dasein bisher so gar nichts glückliches oder angenehmes abgewinnen konnte.
Zitat von wiesenblume
Denn warum fühlt man sich von jemanden angezogen, wenn man selbst über ein enormes Urvertrauen und über einen stabilen Selbstwert verfügt?
Tja, warum fühlt man sich von jemandem angezogen? Das Phänomen Liebe lässt sich leider immernoch nicht ganz pauschal und vollständig wissenschaftlich oder psychologisch erklären.
Im übrigen gehe ich davon aus, dass jeder Mensch irgendeine Meise hat. Keiner wächst paradiesisch auf, ohne Ängste, ohne Traumata. ANGST ist von Natur aus ein essentieller Bestandteil des Daseins, denn ohne Angst liesse sich der Lebenserhaltungstrieb gar nicht realisieren.
Ich finde, man sollte hier vorsichtig sein und nicht jede schlimme zwischenmenschliche Erfahrung gleich auf psychische Macken oder gar fehlendes Urvertrauen zurück führen.
Spreu vom Weizen trennen kann man nur durch Übung: indem man es tut. Es gibt vielerlei Arten Spreu und Weizen, die kann man dann kennenlernen.
Der Mensch ist außerdem nicht ausschliesslich triebgesteuert, und somit auch nicht völliges Opfer seines Unbewussten.
Von daher stimmt die Hypothese nicht ganz, dass jeder Mensch mit Selbstwertproblemen sich destruktive Beziehungen sucht - genau so wenig wie es stimmt, dass jemand, der eine solche mal erlebt hat, einen erheblichen Schaden verbirgt, der ihn sozusagen zum selbstschutzmäßigen Versager oder beziehungstechnischen Gefahrengut macht.
Man beachte die vielen Abstufungen und Kombinationen auf der Ebene zwischen "gestört" (nekrophil/destruktiv) und "gesund" (biophil/konstruktiv) - und vor allem die Tatsache, dass es bei den meisten Menschen, auch denen mit nicht einwandfreiem psychischem Background, in den meisten Fällen einfach dennoch prima klappt.
Findet sich das passende Deckelchen, so gestört es auch sein mag, fühlen sich beide in der Beziehung wohl und entwickeln sich dadurch positiv - und nur das zählt.
Zitat von wiesenblume
wie kann man sich durch einen anderen menschen derart aus den tritt bringen lassen, dass ein Urvertrauen zerstört wird? es heisst ja nicht zufällig Urvertrauen. dieses Urvertrauen schützt ja gerade davor bzw. befähigt einen menschen, auf sich gut zu achten und eben diese verletzungen und demütigungen nicht zuzulassen, oder?
Das Urvertrauen unterstützt enorm dabei, nicht völlig neurotisch oder psychotisch durch die Welt zu laufen.
Dass jeder Mensch, der das Haus verlässt, automatisch ein größeres Risiko auf sich nimmt, im Straßenverkehr oder bei einem Terroranschlag zu verunglücken, leuchtet ein.
Ähnlich befähigt einen das Urvertrauen überhaupt erst, sich auf unbekannte, unvorhersehbare Situationen und Menschen einzulassen und damit automatisch mögliche Enttäuschungen oder Verletzungen des Selbstwertgefühls/der Lebensfreude in Kauf zu nehmen.
Das Urvertrauen und vor allem die Lebensfreude tragen aber zugleich auch erheblich dazu bei, sich im Anschluss an Verletzungen und Enttäuschungen wieder zu regenerieren.
Lebensfreude und Selbstliebe hängen eng zusammen.
Nicht umsonst enden viele Menschen mit schweren Depressionen, die nachweislich keine Lebensfreude empfinden, im Suizid.
Lebenslust ist der Urtrieb, die Energie, die die Entwicklung des Urvertrauens erst motiviert. Säuglinge, deren Lebenstrieb durch existentielle Frustrationen (Mangel an Kontakt/Liebe/Freude) depriviert wurde, sterben häufig - ohne organische Ursachen.
Auch ein intaktes Selbstwertgefühl und Urvertrauen können erschüttert werden.
Jemand, der völlig gesund und voller Urvertrauen ist, wird nach einer grausamen Folterung seelisch gebrochen sein - aber seine Chancen, zu heilen, sind besser als bei jemandem, der sich bis dahin nicht ganz so stabil entwickelt hat und nur über mangelndes Urvertrauen verfügt.
Zitat von wiesenblume
und ein gesunder, gewachsener selbstwert schützt eben auch vor diesen destruktiven beziehungen. ich lasse sie nicht zu. ich entziehe mich, grenze mich gesund ab.
Das stimmt wohl, im Idealfall. Aber das bedeutet nicht, dass man keinen Menschen mehr begegnet, die einen in eine destruktive Beziehung hineinziehen können.
Es ist ausschlaggebend, ob man in der Lage ist, die fortschreitende Entwicklung zu erkennen und rechtzeitig gegen zu steuern.
Das kann man m.E. vor allem durch trial-error, sprich Erfahrungen und LERNPROZESS.
Das Grundprinzip, was hinter einer Paarung mit "destruktivem Potential" steckt, ist doch, dass beide unbewusst Erlösung suchen.
Wenn zwei Menschen sich magisch anziehen, so haben sie meistens ähnliche Grundkonflikte. Das ist nicht komplett sinnfrei. Nur, manchmal sind beide oder einer von beiden eben so unreflektiert und untranszendiert, dass es sich verhakt.
Genau darum ist es ja so wichtig, SelbstBEWUSSTSEIN zu entwickeln, sprich transzendierenden (im Sinne von Erkenntnis) und vor allem emotionalen Zugang zu seinem Unbewussten zu haben.
Wie gesagt, kein Mensch ist frei von Mustern, auch nicht von destruktiven.
Und die Destrudo/der Todestrieb steckt in allen Menschen, genauso wie die Libido/der Lebenstrieb.
Die unterschiedlich starke Ausbildung der beiden Kontrahenten ist eben individuell durch die Entwicklung geprägt.
Man könnte das mit einem Schachspiel vergleichen: Anfangs sind die Chancen gleich, alle Züge möglich, der Ausgang des Spiels ist ungewiss. Mit fortschreitendem Spiel entsteht eine Tendenz, und irgendwann ist der Punkt erreicht, wo es keine Umkehr mehr gibt - und den gilt es zu verhindern, indem man frühzeitig der "guten" Partei einen Vorsprung verschafft. Das gelingt je nach Stadium nur noch mit sehr viel Bewusstseinsarbeit.
Menschen, deren Entwicklung zugunsten der "bösen" Partei verläuft, gehen manchmal bis zum Schachmatt. Die Menschen landen dann als Psychopathen im Hochsicherheitstrakt, oder sprengen sich in die Luft, um andere zu töten.
Zitat von wiesenblume
Ich denke, wenn ich das schaffe, unabhängig von äußeren Faktoren, die zusätzlich Stabilität bieten können, dann kann ich sicher sagen, ja, ich nehme mich so an, wie ich bin, ich besitze ein stabiles Selbstwertgefühl. Die Fähigkeit dazu habe ich sicher, ich kann vieles annehmen, genießen, spüre Lebendigkeit und Lebensfreude in mir, aber allein das langt meines Erachtens nicht aus.
"Unabhängig von äußeren Faktoren" bist Du als sozial lebendes Wesen und Bestandteil Deiner Umwelt niemals.
Was willst Du denn erreichen? Mir gefällt diese zwanghafte "Selbstoptimierung" nicht.
Wer sich selbst liebt, nimmt sich ganz an - in seiner Unvollkommenheit, mit seinen Schwächen, Mängeln und Fehlern, jederzeit - und grübelt nicht darüber, wie er mehr Selbstwertgefühl erreichen kann. Er hat einfach das Basispaket, weil er gern in der Welt ist, sein Glück spürt und die Welt liebt. Und wer dementsprechend mit der Welt interagiert, der wird auch viele Erfahrungen machen, die sein Selbstwertgefühl stärken.