"Die Erziehung des Mannes" von Michael Kumpfmüller (2016)
Eine angenehm zu lesende, keineswegs beklemmende Lebens- und Beziehungsgeschichte. Ein Mann, geboren wohl Mitte der 1960er Jahre, ein Kind der gehobenen Mittelschicht, studiert Musikwissenschaft, hat Freundinnen, wird erfolgreicher Komponist, heiratet, wird Vater von drei kleinen Kindern, wird geschieden, beginnt eine neue Beziehung...
Viele BA-Elemente sind in die Geschichte eingewoben.
Das Eltern-Thema: Rückblenden in die Kindheit lassen einen emotional abwesenden Vater erkennen, der wechselnde Geliebte hat und dies auch irgendwann gar nicht mehr vor der Familie verbirgt, und eine passive Mutter, die ihr Schicksal hinnimmt und vom Sohn getröstet werden will. Der Mann beginnt, seinen Vater zu hassen, dessen ständige Doppelbotschaften ihn innerlich stark unter Druck setzen: einerseits liebe Momente, andererseits krasse Abwertungen. Der Vater läßt keinen Zweifel daran, daß er seinen jugendlichen und später studierenden Sohn für einen Versager hält, für eine gescheiterte Existenz. Seine Erfolge erkennt er nicht an. Das Elternhaus als klassische BÄler-Brutstätte.
Selbstwertproblematik: der Mann kreist fast ausschließlich um sich selbst, traut sich im Beruflichen wenig zu, hat Angst vor Kritik und Zurückweisung, obwohl er ziemlich erfolgreich ist. Offenbar hat er ständig die abwertende, verachtende Stimme seines Vaters im Kopf. Er wird nicht wie ein schwieriger Psycho-Problemfall gezeichnet, er wirkt nicht persönlichkeitsgestört, ist nicht depressiv oder gar süchtig, aber er ist phasenweise so mit sich selbst beschäftigt, daß er die jeweilige Frau an seiner Seite gar nicht wirklich wahrnimmt. Zweifel bestimmen ihn, sowohl im Berufsleben, als auch hinsichtlich seiner Ehefrau. Tatsächlich scheint er ein ganz anderer Typ zu sein als diese Frau, ganz andere Interessen zu haben, und man kann sich zu Recht fragen, wie gut die beiden überhaupt zusammen passen. Aber dann wiederum scheinen ihm diese Dinge gar nicht so wichtig zu sein, man ist halt zusammen, weil man die Frau anfänglich attraktiv fand, und dann bleibt es dabei, so lange, bis man irgendwann nach ein paar Jahren das Interesse aneinander verliert. Beziehungsarbeit: Fehlanzeige. Der Mann “löst” die Situation jeweils, indem er zu einer neuen attraktiven Frau wechselt, oder die Frau geht halt.
Verwechseln von Sex mit Liebe/Nähe: der Mann hat nicht viele, dafür sehr dauerhafte Beziehungen, es gibt hier also keine chaotischen Irrungen und Wirrungen, keine “Fluchtpartnergeschichten”, aber bei den Beziehungen, die er hat, fragt sich, warum er mit den Frauen überhaupt zusammen ist. Alles scheint recht oberflächlich, die Persönlichkeiten der Frauen bleiben meist blaß. Hingegen bekommt Körperlichkeit einen großen Stellenwert. Neue Beziehungen entstehen über sexuelle Attraktivität, sie entwickeln sich in Richtung von “Freundschaft Plus” und bleiben dabei auch stehen. Auch die Ehe, die der Mann führt. Man lebt halt nebeneinander her, und solange man Sex hat, ist es irgendwie ok. Was will man erwarten. Im Unterschied zu vielen BA-Geschichten hier im Forum ist es also kein BA-Typ nach dem Schema: erst riesengroße Verliebtheit, dann plötzlicher Rückzug/Flucht, es geht auch nicht um Panikattacken bei zu großer Nähe, er scheint keinen Leidensdruck zu verspüren, im Gegenteil, man fragt sich, was/wieviel er für die jeweilige Frau überhaupt fühlt. Sympathie, sicher, aber Liebe?
Aktive/passive BA: mal denkt der Mann, noch während er in einer Beziehung ist, daß er sie wohl bald beenden wird, weil ihm so langsam die Luft raus zu sein scheint; mal ist er mit einer Frau zusammen, von der er glaubt, sie werde ihn ohnehin früher oder später verlassen. Geredet wird darüber aber nicht. Beziehungen beginnen und enden einfach irgendwie, ohne große Aufregung, ohne großes Bedauern.
BA-PartnerInnen, die ebenfalls ein Nähe-Problem haben: die Freundinnen/Ehefrau des Mannes haben alle mehr oder weniger deutlich beschriebene psychische Probleme (eine Freundin hat depressive Rückzüge und läßt jahrelang keinen Sex zu) und/oder können ebenfalls keine Nähe, sind ebenso sprachlos wie der Mann. Natürlich fühlt er sich zu Frauen besonders hingezogen, die ihn eher distanziert behandeln.
Sprachlosigkeit/Konfliktunfähigkeit: Konflikte werden nicht ausdiskutiert, sondern ausgeschwiegen, in der Erwartung, daß man sich bestimmt bald wieder verträgt.
Schlechtes Gewissen: der Mann trifft eine Ex-Freundin, die sehr an ihm hängt, weiterhin, obwohl er schon eine neue Beziehung hat. Er will eine Art Freundschaft aufrechterhalten, obwohl die Ex-Freundin ihm eigentlich nichts mehr bedeutet, aber er will sie ja nicht verletzen und weist ihre Kontaktversuche daher nicht zurück.
Therapie: nebenbei wird erwähnt, daß der Mann mit Anfang 30 reif für eine Psychotherapie ist, die ihm sehr hilft, das Eltern-Thema aufzuarbeiten. Wie / ob die Erkenntnisse aus der Therapie sein Beziehungsverhalten beeinflussen, wird aber nicht gesagt.
Schließlich scheitert seine Ehe, es beginnt ein Scheidungskrieg und der Mann scheint gar nicht so recht zu verstehen, was seine Ex-Frau eigentlich von ihm will, was sie ihm eigentlich vorwirft. Aus ihrer Sicht hat er sich wohl wie ein “Energievampir” verhalten, und mithilfe ihrer Anwältin will sie nun finanziell von ihm zurückholen, was er ihr emotional in den Ehejahren genommen hat. Er hingegen will einfach nur in Ruhe leben mit seiner neuen Freundin und den drei Kindern, die abwechselnd bei ihm und bei der Mutter sind. Seine größte Angst ist nun, daß er die Kinder verlieren könnte, denn diese liebt er sehr, mehr als die jeweiligen Frauen.
Die neue Frau, mit der er nach Beendigung seiner Ehe zusammen ist, paßt offenbar sehr gut zu ihm. Sie ist Musikerin, teilt also sein berufliches Interesse, hat selbst keine Kinder und versteht sich gut mit seinen. Aber letzten Endes verläßt sie ihn, weil ihr die Kinder wohl doch zu stressig sind und sie sich auf ihre Karriere konzentrieren will, die häufiges Reisen erfordert.
Erst im Alter von Anfang 60 gibt es für den Mann offenbar ein “Ankommen”, als die Streßfaktoren seines Lebens wegfallen: die Kinder sind groß, keine Konflikte mehr mit der Ex-Frau, beruflich muß er sich nichts mehr beweisen. Nun beginnt eine neue, entspannte Beziehung – mit seiner Jugendliebe.