Gewonnen? - Ja. Einen wertvollen Menschen.

  • Viel gelesen hier. Das meiste bekannt. Die Verzweiflung der vielen auf beiden Seiten rührt an, man kennt das.
    Seit sechs Jahren habe ich es mit einem nunmehr 45jährigen Bindungsängstler / Bindungsphobiker zu tun. Die ersten 1,5 Jahre wie durch so viele hier beschrieben - ständige Rückzüge, Defizite, Liebe, merkwürdige Sexualität, Leere, Kopfschmerzen, Leid und immer wieder magische Momente. Noch heute stellt sich mir die Frage, ob ich "weniger" verliebt gewesen wäre, wenn diese Defizite nicht ständig zu spüren gewesen wären, wenn alles glatt gelaufen wäre. Wahrscheinlich wäre ich dann aber nicht ich.


    Unerwartete, ungeplante Schwangerschaft. Herrjeh... und das mit einem Menschen, der sich nicht einen Schritt, nicht einen Tag weiterplanen kann. Es war die Hölle. Pragmatisch und erfahren wie ich bereits war (aus meiner eigenen Geschichte als Verlustängstlerin) habe ich nach adäquater Hilfe gesucht und sie gefunden. Gut. Danke.


    Unsere Tochter wurde geboren. Kurz vor der Entbindung sind wir zusammen gezogen. Er in der Diplomarbeit, ich mit postpartaler Depression und einem Überrollen meiner alten Muster. Dieses wunderschöne Baby. Wir liebten dieses Kind von Beginn. Wir stritten irgendwann nur noch. Die totale Überforderung. Noch mal die Hölle. Die Paarbeziehung bestand nur noch aus Vorwürfen, verzweifelter Bedürftigkeit auf beiden Seiten und einem Kind.


    Nach einem Jahr zog ich mit meinem kleinen Kind in eine eigene Wohnung. Ein weiteres Jahr brauchte ich um den Fluss der inneren Tränen zu stoppen. Wir können stolz auf uns sein. Unsere Belange konnten wir für unser Baby in den Hintergrund stellen. In den kleinsten Mikroschritten näherten wir uns wieder an. Er war immer da, wenn wir ihn brauchten.


    Es gibt keinen ersten Tag unserer Beziehung und wahrscheinlich auch keinen letzten. Darin steckt eine nicht zu beeinflussende Botschaft. Ich kann auch nicht, sagen seit wann wir wieder zusammen sind und ob wir es tatsächlich sind. Es fühlt sich so an. Wir sind eine Familie. Alles ist sehr verbindlich, sehr verlässlich. Wir blicken auf zahlreiche ruhige und glückliche Momente in den letzten zwei Jahren. Momente, die einem nach den vielen Schmerzen, die Seele streicheln. Momente, in denen man weiß, das alles gut ist und dass es immer so bleiben wird. Ich liebe ihn. Er liebt mich. Wir sagen das nicht mehr, weil es hohl klingt. Wir spüren es. Immer öfter. Nun manchmal über viele Wochen konstant. Das ist besonders.


    Wir haben keinen Sex mehr. Wir haben noch nicht wieder Sex. Er hat Sex - ab und zu. Ich möchte Sex mit ihm, er hat Angst. Seine Versuche sind zu zaghaft. So zaghaft, dass ich seine Hand nicht ergreifen kann. Die andere/n Frau / Frauen? Eine lange Zeit waren sie mir egal. Die andere/n Frau/en gab es immer. Sie sind weniger geworden und die Gelegenheiten seltener. Bei ihm scheint es anders, als bei den meisten hier. Ja. Am Anfang sehr schnell Sex, dann immer weniger. Seine Lust ist nicht das Thema. Es ist die Angst heute, dass das Thema unsere Harmonie stören könnte, unsere jetzige Situation wieder komplexer machen könnte. Leidenschaft gibt es. Darüber bin ich sehr froh.


    Ich habe viel gelernt. Über die Liebe, über mich, über ihn. Geht es um Liebe und Bindung oder geht es um Beziehung. Das sind unterschiedliche Dinge, wie ich finde. Überbetont würde ich sagen "Es kann einem niemand verbieten, einen anderen Menschen zu lieben"... Ich habe mich und meine Gefühle immer wieder in Frage gestellt. An irgendeinem Punkt in den letzten 4 Jahren habe ich mich entschieden, diese Gefühle zu zulassen und mit der Tatsache zu leben, dass ich einen Menschen liebe, der meine Wünsche an das Leben, meine Bedürfnisse an einen Partner nicht im eigentlichen Sinne erfüllen bzw. befriedigen kann. Daran bin ich stark geworden, habe noch mehr loslassen können. Und... er ist bei mir. Ich kann sagen "Nimm mich bitte in den Arm, ich brauche das gerade", das kann er dann. Es ist gut für ihn, wenn ich ihm konkrete spontane Brücken zu meinen Bedürfnissen baue. Als hoch intelligenter Mann, fällt es ihm dennoch so schwer empathisch zu sein, sich einzufühlen. Aber ein kleines Lächeln hat er dann oft auf den Lippen.


    Es ist als wenn ich umso vieles "bescheidener" und sparsamer geworden bin. Getanzt bin ich durch mein Leben früher, mit Temperament und Impulsivität. Das gibt es immer noch. Insgesamt aber bedachter, aufmerksamer. Heute kann ich die tausend verschiedenen Grauzonen zwischen schwarz und weiß besser sehen.
    Derzeit kämpfe ich einmal wieder. Ein bisschen Traurigkeit ist auch wieder dabei. Es geht um Geld und Sex. Merkwürdig. Leider gerade arbeitslos wünsche ich mir, dass er nun auch finanziell Verantwortung übernimmt und uns mehr als bisher unterstützt. Ich hatte die Macht seiner Bindungsangst schon etwas vergessen. Gestern Nacht ein Gespräch, in der das Winden und Sträuben, die Sprachlosigkeit, die Flucht wieder da war. Ich habe den Geschmack sofort wieder auf der Zunge gehabt. Wieder ein Ultimatum, ein liebevolles ... kein Druck. Es bleibt spannend. Immer. Das ist das Leben.


    Für alle Verzweifelten und Liebenden hier... wenn Euch ein Mensch mit solchen Ängsten begegnet, passiert dies zumeist nicht ohne Grund. Vielleicht ist das Bekenntnis zu den eigenen Ängsten ein weiterer Schlüssel ins relative "Glücklich sein" mit einem Bindungsphobiker. Denn... LIEBEN kann ich Euch keiner verbieten!


    Bis bald vielleicht.

  • Hallo Unvollkommene,


    hab Dank für Deine schöne Schilderung über Dein Leben mit ihm. Ein BÄ lehrt einen viel, ob man will oder nicht... Es ist schön zu lesen, dass Ihr es schafft, für Eurer Kind gemeinsam da zu sein. Das ist ja auch nicht selbstverständlich bei "normalen" Paaren...


    Lebt Ihr denn zusammen?


    Liebe Grüße
    Bianca

  • Liebe Bianca,


    nein. Wir leben heut nicht zusammen. Allerdings ist er zumeist mehr als die Hälfte einer Woche bei uns. Für mich ist das mittlerweile ein Thema, welches nicht mehr im Vordergrund steht. Er hat eine Zahnbürste und Wechselsachen hier. Er kümmert sich mit um den Haushalt, arbeitet abends bei uns und liebt unseren Garten. Das ist viel. Ich schätze es, dass dies meine Wohnung ist und er an ca. drei Abenden in der Woche bei sich zu Hause übernachtet (ganz in der Nähe). Ich habe kein Gefühl dazu, ob wir einmal wieder zusammen leben werden/wollen. Da sind wir uns einig. Trotzdem sehen wir unseren Papa häufiger als manch andere Familie, die ich kenne. Und wir sehen uns irgendwie bewusster.


    Naja, so ist es. Es bedeutet mir sehr viel, mitzuteilen, dass auch mit einem Partner mit Bindungsstörung immer zwei zu einer Beziehung bzw. Partnerschaft gehören. D.h., auch der andere hat Entscheidungen zu treffen, muss sich einfühlen, muss Kompromissbereit sein, muss auf seine Wünsche und Bedürfnisse achten. Wer sagt, dass wir alle unsere Bedürfnisse von nur einem Menschen erfüllt haben sollten. Ich habe Freudinnen und Freunde, mit denen ich ebenfalls in Beziehung stehe und auf die ich mich also beziehen kann. Eingebettet in ein Netzwerk aus lieben und vertrauenswürdigen Menschen, gibt es einen Mangel nicht wirklich. Und je autaker ich bin, desto besser fühlt sich mein Partner. Dann kann er auch schwache oder traurige Momente zulassen. Verlässlichkeit ist ein großes Wort. Emotionales Vertrauen ebenfalls.


    Vielen Dank für Deine Zeilen.


    Herzlich, die Unvollkommene

  • Also bewußt Zeit miteinander verbringen und ein paar Tage Zeit und Freiraum für sich selbst find ich persönlich auch gut lebbar. Also bliebe nur noch das Thema Intimität... bei Euch offen? Scheint als wäre das seine letzte Barriere zu Dir...

  • Hallo Zaza.


    Den Namen habe ich unbewusst gewählt. Zunächst las ich hier einige der Berichte, sowohl die der vermeintlich Bindungsängstlichen als auch die der Partner. Je mehr ich las, desto mehr verschwammen diese beiden Kategorien. Es ist nur ein Hinweis an mich selbst, dass es Vollkommenheit nicht gibt. Unvollkommen sein heißt ja, dass etwas fehlt, ein Stück zum Glück eventuell. So habe ich es lange Zeit empfunden. Jetzt nicht mehr oder nur noch in kurzen Momenten. Beziehung heißt "immer arbeiten" und unvollkommen bleiben und dazu stehen ist dabei ein nicht unwichtiges Detail. Meine Einstellung. Gut, dass ich unvollkommen bin, sonst hätte ich nicht lernen können, sonst wäre die Geschichte anders verlaufen.


    Irgendwie so. Irgendwie deshalb.


    Alles Gute.