Ich weiß nicht, ob mein erster Freund ein gutes Beispiel ist, denn er hatte ja Schizophrenie im Anfangsstadium, aber es geht hier ja auch um die Frage, was an sensiblen Männern (Frauen) so attraktiv ist, deshalb gebe ich die folgende kurze Geschichte wieder.
Mein erster Freund war mit 15 (also bevor wir uns kennenlernten) in eine türkische Mitschülerin verliebt gewesen. Sie verließ nach der 10. Klasse die Schule und machte eine Lehre in einem Altenpflegeheim. Er ging danach öfters abends im Dunklen zu diesem Heim, um von draußen Blicke auf sie zu erhaschen.
Heute würde man sofort aufschreien: stalking!! , aber ich habe die Geschichte anders gesehen. Mich hatte die Tiefe seiner Gefühle beeindruckt, die ihn dazu brachte, abends in Kälte und Dunkelheit vor diesem Heim zu stehen. Ich war ebenso davon beeindruckt, wie sehr er sich in die Situation dieser Mitschülerin hineinversetzte. Er vermutete, daß sie von ihren Eltern unterdrückt und dazu gezwungen wurde, die Schule schon nach der 10. Klasse zu verlassen und diese Lehre zu machen. Zweifellos würde sie später auch dazu gezwungen, einen türkischen Mann zu heiraten und Hausfrau und Mutter zu werden. Er war nicht nur verliebt, er wollte sie auch "befreien". Ich glaube, es gibt wenige 15jährige Jungs, die soviel Empathie entwickeln.
Diese Geschichte sprach damals schon mein Sicherheitsbedürfnis an. Wer so tiefe Gefühle entwickeln kann und soviel Empathie besitzt, der wird besonders beziehungsfähig sein, der wird mich besonders gut verstehen, der wird mich niemals schlecht behandeln und niemals verlassen...
Der Paartherapeut würde an dieser Stelle fragen: "Kann er diese Gefühle denn auch in der Realität leben?" - tja, und da haperte es eben. Tatsächlich war es so, daß mein Freund kaum jemals ein paar Worte mit der Mitschülerin gewechselt hatte. Er wußte überhaupt nicht, ob sie wirklich "unterdrückt" war, ob sie gar "befreit" werden wollte. Natürlich hat er auch über seine Gefühle nie mit ihr gesprochen. Und das hat mich auch damals schon gestört: viel Empfinden, wenig Handeln...
Mein erster Freund verstand sehr gut, wie schlecht mein Verhältnis zu meinen Eltern war, obwohl ich mich niemals bei ihm darüber ausgeheult hatte. Er sagte, es tue ihm so leid, wie sehr meine Eltern mich enttäuscht hätten. Dieses Verständnis hat mir gutgetan. Aber später enttäuschte er mich ja auch, indem er sich immer häufiger für immer längere Zeiträume ohne Erklärung zurückzog. Das habe ich ihm in meiner Verzweiflung dann auch mal gesagt. Seine Reaktion: Tränen, keine Erklärung seines Verhaltens. Meine Reaktion: Hilflosigkeit, Unverständnis. Ich fühlte mich auch irgendwie verraten. Er verstand mich doch so gut, warum enttäuschte er mich trotzdem? Von meinen "bösen" Eltern erwartete ich ja nichts anderes, aber von ihm sehr wohl, er liebte mich doch.
Wo ist der sensible Mann, der trotzdem beziehungsfähig ist?